Über "Karlchen" Rosenzweig in Kampen/Sylt

Die Bitburger Brauerei bat ausgewählte Gäste des Kampener Bar-Betreibers, ihre Erinnerungen in einem firmeneigenen Heft zu Papier zu bringen. Darunter Prominente aus Politik, Wirtschaft, Medien und Kunst. Das "Karlchen" war angesagter Treffunkt, auch Galerie, vielleicht das inoffizielle Kulturzentrum der Insel. Hier ein Text von Pit Morell. Das Original-Heft ist erhalten.
Karlchen Rosenzweig, wurde geboren in Westerland/Sylt, sein Vater war Schornsteinfegermeister. Er lebte zeitweilig in Berlin und später in Bonn, wo er auch jeweils eine Bar betrieben hatte. Einige Gäste folgten ihm quasi von dort  in die Insel-Saison" Hier der abgedruckte Text:

Pit Morell: Karlchen, wie hinter einem Deich

Gern besuchten Rosmarie und ich Karlchen, wenn möglich nach Mitternacht. Oft kamen wir aber auch zu anderer Zeit: Wenn Karlchen zeichnete. Karlchen konnte zeichnen und Drinks mischen. Wir sprachen nie darüber, wie man's macht. Planters Punch war unser Drink. Den mixte uns Karlchen auch bei seinem Besuch in Worpswede im Strohdachhaus im Moor. Noch heute ist ein Fleck auf unserem alten ovalen Tisch vom Jamaika Rum.

In Kampen sprachen wir über Walfänger oder über William Turner, mit Verehrung. Turner, der auf einem Pony durchs Gebirge ritt, in der Tasche kleine Bücher, in die hinein er zeichnete und an Ort und stelle aquarellierte. Nach 188 Jahren kann man nun in einem Turner Katalog die Regentropfen sehen, die Spuren des Wetters damals auf dem Aquarell "Pat up a mountain".

Karlchen liebte Kunst. Er mochte die Künstler. Er selbst war einer. Im Jahr 1986 kam ich mit meiner Frau aus Tokio zurück. Wir hatten hunderttausend Köpfe gesehen. Ich las im Atelier in Worpswede in alten Zeitungen. In der F.A.Z. registrierte ich erschrocken den Nachruf auf Karlchen. (Anm.: Der Link ist nicht aufzufinden, in die DIE ZEIT hieß es "Der Tod des Barkeepers" und "Abschied: Kampen ohne Karlchen")

Jetzt dachte man besonders an die vielen schönen Erlebnisse bei und mit Karlchen. Er hatte viele Menschen gesehen. Viele kannte er gut. Jahr für Jahr waren sie seine Gäste. So kannte er auch viele Menschenschicksale. So musste er wohl auch das ganze Boshafte im Menschen gesehen haben. Es kam ja  ständig angebrandet. Hinter der Bartheke stand er wie hinter einem Deich, Schutz findend. Oft fragte ich mich: Wie konnte ein Mensch sich so viele Namen merken?

Ich sehe die Figur, den Mann, das Wesen Karlchen genau vor mir. Dieses bestimmte Lächeln, die roten Bäckchen, die leuchtenden Augen, die sich flink bewegten. Seine ihm eigene Körperhaltung, die am eindringlichsten war, wenn er seinen Oberkörper bis zu diesem Punkt gedreht hatte, von dem aus musste er mit Anstrengung den Augapfel soweit drehen, bis nichts mehr weiter ging. Hier schienen mir seine Ohren als Hilfsorgan tätig zu werden, um von diesem Standpunkt aus jemanden anzuschauen und ihm zu folgen. Diese Augen-Blicke sind uns unvergesslich. 

 

Was uns erstaunte war auch: Der Physiognomien-Sammler. Per Kamera. Ich sehe immer die Bilder! Wenn er die Zigarrenkisten mit seinen Gäste-Fotos herüberreichte oder wenn er uns unsere "Jahresfotos" gab. Seine Begleitkommentare: "Kennst Du den?" Oder: "Das ist auch eine ganz Liebe!" Bald rückte er die rote Lampe auf der Bartheke zurecht, um jemandem das richtige Licht zu geben.

Karlchen als Künstlerkollege war oft Gesprächspartner, wenn es um Malerei, Grafik, Literatur ging. Wir hatten gemeinsame Bekannte, die mit mir in Kassel studierten.: A. Waldschmidt, A. Schindehütte. Dann die anderen "Rixdorfer" J. Vennekamp, U. Bremer, die heute als Künstlerpersönlichkeiten ihren Namen haben.

Ich erinnere mich noch an einen Brief mit schönen Illuminationen von Horst Janssen, den Karlchen zu Janssens Ausstellung in die Bar gesandt bekam und den mir Karlchen stolz zeigte. Neben Figuren und Text war ein schöner Rasierapparat und eine Rasierklinge gezeichnet, typische Janssen-Ideen.

Karlchen als Zeichner: Ich weiss als Maler/Zeichner vieles über das Sichzurückziehen ins Nichtstun und Nichtsdenken. Manche alte Frauen können es: Nur dazitzen. Hunde können es, Katzen. Männer müssen Holz hacken, vielleicht. Ich zeichne dann.

Unsere Zivilisation hat die Tendenz zur Neurose. Man verausgabt sich. Ausgelaugt sein und totale Strapazierung des "Nervenkorsetts" als Folge des Chinchs, in dem sich die Menschen befinden mit den Dingen. Beim Zeichnen entspannt man. Es ist Rückbesinnung. Eine Art Meditation, Kräftesammeln. Zeichnen ist bereits Glücksgefühl. Ein Ausstieg aus dem, normalen "Getue".

Karlchen wusste davon und benutzte es in mußevollen Minuten. Es war ihm eine Technik, die er eben mal nebenbei verwenden konnte, die "Batterie"  aufzuladen. Oder er benutzte sie als Spiel. In seinen mühelos und einfach hingeschwungenen Kugelschreiber-Zeichnungen, die so automatisch und surrealistisch gemacht waren, hatte er seinen Stil gefunden.

Mit diesem Handwerk konnte er Gedanken versinnbildlichen, aber auch seine Kräfte messen.und wachsen lassen, die ihm von den "Köpfen" und "Torsi" in der Bar abgezogen worden waren. Hier konnte er sie sich auf so schöne und wunderbare Art wiederholen!

 

Wie seine Fotografien gab er diese "Erfindungen" weiter. Er verschenkte sie. Sie sind klein auf kleine Quittungsblöcke gemacht oder groß auf kostbarem Aquarellpapier. Mit schwarzem Kugelschreiber meist und wenig – meist  einer – Farbe.

Denjenigen, denen er sie schenkte, machte er ein schönes Andenken an gute Abende und Nächte.

Einmal – an einem dieser langen violett-rosa-grünlich-blass-blauen Juliabenden mit Licht im Nordwesten bis Mitternacht – kamen Rosmarie und ich in die Bar. Man konnte um 11.00 Uhr noch auf der Straße Zeitung lesen. Karlchen fragte oft: "Was hast Du denn heute Schönes gemacht?" Er wusste, dass ich täglich ein Bisschen skizziere. Kleine Einfälle, spontan oder draussen Gesehenes. An diesem Tag hatte ich Zeichnungen von Wolken gemacht. Am Strand sitzend  beobachtete ich an diesem Tag, der so klar war wie selten, die seltsam niedrig vorbeiziehenden Figuren, die mir in den Wolken erschienen. Ich zeigte Karlchen den Block über die Theke: Es waren Tiere, Menschen, Wesen, stelzende Figuren, Köpfe, die sich küssten, Mützen, eine liegende Große und eine. liegende Kleine u.s.f. Datum, Uhrzeit hinten auf dem Klappdeckel. Wir schlürften den ersten Planters, es war ein extra kräftiger Jamaika Rum daraufgelegt. Da sagte Karlchen, sich die Wolken ansehend, ganz plötzlich und er strahlte, blinzelte durch seine Augenschlitze, seine Backen glühten rot und er zeigte dabei seine kleinen Perlenzähnchenreihen: "Jaaaa!!! Die habe ich auch gesehen!"


Wir werden Karlchen nicht vergessen. Jeder, der ihm begegnet ist, trägt sein Bild im Kopf.

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Kommentare: 1
  • #1

    Knut Dugel (Mittwoch, 02 Oktober 2024 15:03)

    "Jeder, der ihm begegnet ist, trägt sein Bild im Kopf."
    Diesen Satz kann ich nur bestätigen! Ich mochte Karlchen sehr, kann mich, ähnlich wie Sie, noch ganau an seine Bewegungen erinnern, seine Stimme, sein Wesen. Nichts an Kampen vermisse ich so sehr wie ihn. Seine Bar, die blauen Wände, die roten Bänke, die teils bemerkenswerten Gäste und vor allem die knacksende Türe - unvergesslich. Erinnerungen sind auch was schönes. Mehr bleibt uns ohnehin nicht. Alles Gute - Knut Dugel

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Die Biografie

2020
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Die Bücher

Die Treppen zur Muschel
1979
Worpswede – Nachrichten aus dem Moor
1984
Kampen – Skizzen& Text
1979
Tschikeung 1963
Tschikeung 1963

Langspielplatte "Geht's Wasser?" von Pit Morell 1973

Lyrisches, Tagebuch-Aufzeichnungen und Anekdotisches. Es handelt sich um eine Platte, die mit den Original Radio-Bremen-Band hergestellt wurde. Die Lesung ging bereits 1964 on air.

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